Wer künftig über Jugendhilfe streitet, landet vor dem Sozialgericht

Wenn es nach dem neuen Koalitionsvertrag geht, sollen künftig auch Streitigkeiten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe vor den Sozialgerichten ausgetragen werden – und nicht mehr wie bisher vor den Verwaltungsgerichten. Der Satz im Vertrag klingt erstmal trocken: „Die sozialrechtlichen Rechtsgebiete Wohngeld, BAföG, Unterhaltsvorschuss sowie die Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII wollen wir sachgerecht der Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit zuordnen.“ Aber dahinter steckt richtig Musik. Denn mit dieser Änderung wird ein echter Systemwechsel eingeleitet – und das betrifft auch direkt die Arbeit der Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe.

Bisher war klar: Wer über eine Hilfe zur Erziehung, die Kostenübernahme für eine Maßnahme oder einen Jugendhilfebescheid streitet, klagt vor dem Verwaltungsgericht. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat dabei seit Jahrzehnten eine gewisse Routine im Umgang mit Fällen nach dem SGB VIII aufgebaut. Man kennt dort die Strukturen, weiß, wie Jugendämter ticken, welche Leistungen erbracht werden und welche Spielräume das Gesetz zulässt. Mit einer Verlagerung zur Sozialgerichtsbarkeit wird dieser gewohnte Rahmen aufgebrochen. Sozialgerichte sind bisher in erster Linie mit Fragen rund um Arbeitslosengeld, Krankenversicherung, Erwerbsminderung oder Pflegeleistungen befasst – allesamt Bereiche aus dem klassischen Sozialrecht, häufig sehr leistungsbezogen, mit festen Anspruchsgrundlagen.

Ob die sozialrechtliche Brille wirklich besser passt für die komplexen Aushandlungsprozesse und pädagogischen Ermessensspielräume der Jugendhilfe, ist mehr als fraglich. Die Kinder- und Jugendhilfe ist nicht vergleichbar mit der Abwicklung von Krankengeld oder Rentenbescheiden. Es geht um individuelle Hilfen, dialogische Verfahren, Zielvereinbarungen, Entwicklungsprozesse – und nicht selten auch um eine gewisse Unschärfe, die bewusst zugelassen wird, um passgenau helfen zu können. Die Sorge ist daher berechtigt, dass in der Sozialgerichtsbarkeit diese Besonderheiten erstmal auf wenig Verständnis stoßen könnten. Die Befürchtung: Es droht eine mechanische Anspruchsprüfung nach Schema F – was dem Geist des SGB VIII nicht gerecht würde.

Einrichtungen und Dienste müssen sich also möglicherweise auf eine völlig neue Verfahrenskultur einstellen. Nicht nur, dass die Entscheidungslogik der Gerichte eine andere ist. Auch Verfahrenslaufzeiten, Schriftsätze, Beweisanforderungen oder Vergleichsmöglichkeiten könnten sich spürbar verändern. Das wirkt sich auf das gesamte Vorgehen bei Konflikten aus – und zwar nicht nur rechtlich, sondern auch organisatorisch und kommunikativ.

Was also tun? Erstmal Ruhe bewahren. Noch ist nichts beschlossen, der Koalitionsvertrag ist eine politische Absichtserklärung, kein Gesetz. Aber gut vorbereitet zu sein, schadet nie. Einrichtungen sollten anfangen, ihre Prozessvertretung zu überdenken: Wer vertritt uns in einem sozialgerichtlichen Verfahren? Müssen wir uns spezialisierter aufstellen? Auch Fortbildungen zu sozialrechtlichen Verfahren könnten helfen, die Teams auf neue Anforderungen vorzubereiten. Gleichzeitig wäre es sinnvoll, sich in Fachverbänden und Gremien dafür starkzumachen, dass die spezifischen Eigenarten der Kinder- und Jugendhilfe bei einer etwaigen Gesetzesänderung berücksichtigt werden. Endlich mal wieder eine sinnvolle Aufgabe für die Spitzenverbände der Leistungserbringer, die nichts mit Selbsterhalt zu tun hat.

Es bleibt also spannend, was aus der Ankündigung im Koalitionsvertrag konkret wird. Klar ist aber: Einrichtungen und Dienste sollten das Thema auf dem Radar haben. Denn wer künftig mit dem Jugendamt über Leistungen streitet, könnte sehr bald eine neue Adresse für seine Klage haben – und das wäre dann nicht mehr das Verwaltungsgericht.

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